Vergabebaustein

Typ: Artikel , Schwerpunktthema: Barrierefreie IT

Die hessische Landesbeauftragte für barrierefreie IT hat in Kooperation mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat den Vergabebaustein Barrierefreiheit entwickelt. Hierdurch wird der Fokus auf die Barrierefreiheit in der IT in Vergabe-Verfahren maßgeblich erhöht.

Zweck des Vergabebausteins

Der Vergabebaustein Barrierefreiheit unterstützt die Maßnahmen- und Projektverantwortlichen dabei, die Anforderungen an die Barrierefreiheit bei der Beschaffung von IKT-Systemen in der Vergabeunterlage abzubilden. Er ist Bestandteil des Standardvorgehens zur Umsetzung der Barrierefreiheit. Der Vergabebaustein setzt auf den Barrierefreiheits-Anforderungen auf, die in der Definitionsphase der Maßnahmen und Projekte aus dem Standardanforderungskatalog abgeleitet wurden.

Der Vergabebaustein dient dazu, die Umsetzung digitaler Barrierefreiheit bei der Erstellung der Vergabeunterlagen in zwei Bereiche der Vergabeunterlage zu integrieren:

  • In die Leistungsbeschreibung werden die allgemeinen und produktbezogenen Anforderungen zur Barrierefreiheit aufgenommen, die einzuhalten sind (A-Kriterien).
  • In der Leistungsbewertung wird mittels eines entsprechenden B-Kriteriums bewertet, inwieweit die Bietenden das Thema Barrierefreiheit in ihren Leistungsprozessen für die ausgeschriebenen IKT-Systeme berücksichtigen.

Grundlage für die Barrierefreiheit stellt die von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Kommission am 26.Oktober 2016 verabschiedete Richtlinie (EU) 2016/2102. Sie soll sicherstellen, dass öffentliche Stellen in Europa – somit auch in Deutschland – die Grundsätze eines barrierefreien Zugangs zu Inhalten von Webseiten und mobilen Anwendungen bereitstellen. Durch die in der EU-Richtlinie und in weiteren EU-Durchführungsbeschlüssen für alle Mitgliedstaaten verbindlich getroffenen einheitlichen Barrierefreiheitsanforderungen sowie der geforderten Einrichtung von Durchsetzungs- und Überwachungsstellen erfolgte in Deutschland auf Bund- und Länderebene die Anpassung gesetzlicher Regelungen. Abbildung 1 zeigt den Zusammenhang der Richtlinien und Gesetze für die Bundesebene.

Wichtiger Hinweis:

Bitte beachten Sie, dass für die einzelnen Bundesländer andere Regelungen gelten und entsprechend in den Vergabeunterlagen berücksichtigt werden müssen (siehe auch Länderspezifische Regelungen).

Abbildung: Zusammenhang der Richtlinie (EU) mit den Normen und Gesetzen. Abbildung: Zusammenhang der Richtlinie (EU) mit den Normen und Gesetzen. (Vergrößerung öffnet sich im neuen Fenster) Quelle: BMI Abbildung: Zusammenhang der Richtlinie (EU) 2016/2102 mit den Normen EN 301 549, EU 208/1523, EU 2018/1524, EU 2018/2048, den Web Content Accessibility Guidelines (WCAG), dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und der Verordnung zur Schaffung barrierefreier Informationstechnik nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BITV 2.0).

Integration der Barrierefreiheits-Anforderungen an das IKT-System in der Leistungsbeschreibung

Um die Anforderungen an die Barrierefreiheit in die Leistungsbeschreibung für ein IKT-System aufzunehmen, ist folgendermaßen vorzugehen:

  1. In die Leistungsbeschreibung wird ein Abschnitt Barrierefreiheit aufgenommen.
  2. In diesen Abschnitt wird die folgende allgemeine Anforderung aufgenommen:

    „Das IKT-System muss entsprechend § 4 BGG für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und im Sinne der DIN EN ISO 9241 nutzbar sein. Dies erfordert entsprechend § 3 Abs. 1 BITV 2.0, dass sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust ist. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.“

    Zur Unterstützung des Verständnisses der Bietenden kann diese Anforderung durch die folgende Erläuterung ergänzt werden. Die Erläuterung ist inhaltsgleich zu den Ausführungen in Abschnitt 4 der DIN EN 301 549 V3.2.1.:

    „Die Barrierefreiheit des IKT-Systems zielt darauf ab, abhängig vom Nutzungskontext die Erfordernisse der folgenden Nutzendengruppen:

    • Nutzung ohne Sehvermögen: Wenn IKT visuelle Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT mindestens einen Betriebsmodus bereitstellt, der kein Sehvermögen erfordert.
    • Nutzung mit eingeschränktem Sehvermögen: Wenn IKT visuelle Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT Funktionen bereitstellt, die ihnen die Nutzung ihres eingeschränkten Sehvermögens erleichtern.
    • Nutzung ohne Farbwahrnehmung: Wenn IKT visuelle Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT Funktionen bereitstellt, die ihnen die Nutzung ihres eingeschränkten Sehvermögens erleichtern.
    • Nutzung ohne Hörvermögen: Wenn IKT auditorische Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT einen visuellen Betriebsmodus bereitstellt, der kein Hörvermögen erfordert.
    • Nutzung mit eingeschränktem Hörvermögen: Wenn IKT auditive Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT erweiterte Audiofunktionen bereitstellt.
    • Nutzung ohne Sprachvermögen: Wenn IKT sprachliche Eingaben durch die Nutzer/-innen erfordert, sind einige Nutzende darauf angewiesen, dass die IKT mindestens einen Betriebsmodus bereitstellt, der keine Sprachausgabe von ihnen erfordert.
    • Nutzung mit eingeschränkter Handhabung oder Kraft: Wenn IKT manuelle Handlungen erfordert, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT Funktionen bereitstellt, die es ihnen ermöglichen, die IKT über alternative Handlungen, die keine Handhabung oder Handkraft erfordern, zu nutzen.
    • Nutzung mit eingeschränkter Reichweite: Wenn IKT-Produkte freistehend oder fest installiert sind, müssen sich die Bedienelemente in Reichweite aller Nutzer/-innen befinden.
    • Verringerung von Anfallsauslösern bei Photosensibilität: Wenn IKT visuelle Betriebsmodi bereitstellt, sind einige Nutzer/-innen darauf angewiesen, dass die IKT mindestens einen Betriebsmodus bereitstellt, bei dem das Potential der Auslösung von Anfällen durch Lichtreize (Photosensibilität) verringert ist.
    • Nutzung mit kognitiven Einschränkungen: Einige Nutzer/-innen sind darauf angewiesen, dass die IKT Funktionen zur vereinfachten und erleichterten Nutzung bereitstellt.“

  3. In diesem Abschnitt werden außerdem die detaillierten maßnahmenspezifischen Barrierefreiheits-Anforderungen an das IKT-System aufgenommen, die

    • aus dem Standardanforderungskatalog Barrierefreiheit abgeleitet wurden. Sie umfassen alle Anforderungen der BITV 2.0 und insbesondere der DIN EN 301 549 V3.2.1 als nach § 3 (2) BITV 2.0 anzuwendendem Standard, die für die spezifische Maßnahme einschlägig sind.
    • aus den konkreten Anwendungsfällen, Verfahrensabläufen und den Nutzungskontexten hergeleitet und für Usability-Tests angemessen und geeignet sind.

    Im Einzelfall ist zu prüfen, ob die Beifügung des Standardanforderungskatalogs und der Anforderungen aus 3 b) ausreichend ist, oder ob die jeweiligen Anforderungen aus 3 a) und 3 b) der Leistungsbeschreibung als Anlage beizufügen sind. Denkbar ist auch eine Mischung aus Verweis und detaillierter Nennung im Anhang.

  4. In die Leistungsbeschreibung ist außerdem folgende Anforderung an die Barrierefreiheit von Hilfe-Funktionen, Benutzungshandbücher und Schulungsunterlagen aufzunehmen:

    „Hilfe-Funktionen, Benutzungshandbücher und Schulungsunterlagen müssen barrierefrei sein. Bei ihrer Gestaltung sind die in Abschnitt 12 der DIN EN 301 549 (V3.2.1) aufgeführten Anforderungen zur Barrierefreiheit einzuhalten.“

  5. In die Leistungsbeschreibung ist aufzunehmen, dass die Bietenden vor Abnahme einen Nachweis der Barrierefreiheit des IKT-Systems erbringen müssen.


    Der Nachweis muss zum einen die vollständige Erfüllung der in der Leistungsbeschreibung aufgeführten Anforderungen zur produktorientierten Barrierefreiheit umfassen (Accessibility).
    Der Nachweis muss zum anderen anhand von Use Cases, die die verschiedenen mit der Anwendung zu erledigenden Aufgaben abbilden, dokumentieren, dass sich das IKT-System auf effiziente Weise von Menschen mit Behinderungen nutzen lässt. (Nutzendenorientierung, Gebrauchstauglichkeit, Usability).

    Die Anforderungen an das Produkt, inkl. der angeforderten Nachweise, sollten bereits in der Leistungsbeschreibung genannt werden, d.h. die Form des Nachweises (z. B. Zertifikate, Konzepte etc.) sollte einheitlich und den Bietenden bekannt sein. Ansonsten ist wegen einer ggf. Nichtvergleichbarkeit eine Gleichbehandlung der Bietenden sowie der Transparenzgrundsatz gefährdet.

    Mindestens ist der Nachweis über Barrierefreiheits-Tests im Rahmen der Abnahme der IKT-Lösung zu bringen. Dieses Tests müssen die produktorientierten und die nutzendenorientierten Barrierefreiheits-Anforderungen abdecken.

  6. In die Leistungsbeschreibung ist aufzunehmen, dass die Anforderungen an die Barrierefreiheit über die gesamte Vertragslaufzeit erfüllt werden müssen, also auch bei Versionswechseln, Wartung und Pflege des IKT-Systems.

Bewertung der Leistungsprozesse der Bietenden

Die barrierefreie Gestaltung eines IKT-Systems setzt voraus, dass die Leistungsprozesse von Bietenden entsprechend gestaltet sind. Bei der Beschaffung von IKT-Systemen oder Entwicklungsleistungen soll daher auch bewertet werden, inwieweit bei der Entwicklung des IKT-Systems die Barrierefreiheit als Ziel berücksichtigt wird. Dies wird durch ein entsprechendes B-Kriterium zur Bewertung des Angebotes gewährleistet.

In die Kriterien zur Leistungsbewertung ist das folgende B-Kriterium aufzunehmen und in der Vergabeunterlage zu veröffentlichen:

„Stellen Sie dar, wie Sie in ihrer Organisation sicherstellen, dass bei der Gestaltung/Entwicklung/Bereitstellung des ausgeschriebenen IKT-Systems die in der Leistungsbeschreibung aufgeführten Anforderungen zur Barrierefreiheit umgesetzt werden. Gehen Sie dabei auf die folgenden Aspekte ein:

  • Strategie: Verankerung des Themas Barrierefreiheit in der Strategie Ihres Unternehmens (bezogen auf die angeforderte Leistung).
  • Geschäftsprozesse:

    • Verankerung des Themas BF im gesamten operativen Entwicklungszyklus des IKT-Systems mit konkreten Maßnahmen.
    • Prüfung der Entwicklungsstände des IKT-Systems (Konzepte, Prototypen, …) frühzeitig und kontinuierlich daraufhin, ob die Barrierefreiheits-Ziele umgesetzt werden.
    • Maßnahmen zur Berücksichtigung der Anforderungen von Nutzer/-innen mit Behinderungen bei Nutzungs- und Usability-Tests des IKT-Systems.
    • Einbringung von Kompetenzen hinsichtlich barrierefreier Gestaltung in die Entwicklung des IKT-Systems.
  • Kontinuierliche Verbesserung: Verankerung des Themas Barrierefreiheit im kontinuierlichen Verbesserungsprozess des Unternehmens.“

Die Seitenanzahl, auf der dieser Nachweis erbracht werden soll, sollte vorgegeben sein (z. B. max. 3 Din A4 Seiten, Schriftgröße 10, Arial).

Ausgehend von diesen Bewertungsdimensionen können die Antworten der Bietenden mittels folgendem Bewertungsschema bewertet werden:

  • Schlecht (0-2 Punkte):
    Das Thema Barrierefreiheit ist nicht durchgängig in der Entwicklung des IKT-Systems mit konkreten Aktivitäten verankert. ODER: Es findet keine entwicklungsbegleitende Prüfung der Barrierefreiheit des IKT-Systems statt. Oder: Es werden keine Kompetenzen hinsichtlich barrierefreier Gestaltung in die Entwicklung des IKT-Systems eingebracht.
  • Mittel (3-6 Punkte):
    Das Thema Barrierefreiheit ist durchgängig im Entwicklungsprozess des IKT-Systems verankert, es finden entwicklungsbegleitende Prüfungen statt und Kompetenzen werden eingebracht. Bei Nutzungs- und Usability-Tests des IKT-Systems werden die Anforderungen von Nutzenden mit Behinderungen nicht systematisch berücksichtigt. Das Thema Barrierefreiheit ist nicht in der Strategie des Unternehmens verankert und auch nicht Gegenstand eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses.
  • Gut (7-10 Punkte):

    Barrierefreiheit ist in der Strategie und im KVP des Unternehmens verankert, wird bei der Entwicklung des IKT-Systems systematisch und kontinuierlich berücksichtigt, Anforderungen von Nutzenden mit Behinderungen werden in Tests berücksichtigt, Expertenwissen ist vorhanden.

    Das Bewertungsschema ist in den Vergabeunterlagen zu veröffentlichen. Das Kriterium ist entsprechend zu gewichten. Wie relevant das Thema Barrierefreiheit für ein IKT-System ist, hängt unter anderem von der Anzahl der Nutzenden, der Nutzungsintensität und der Bedeutung des IKT-Systems für die Aufgabenerfüllung der Anwender/-innen ab.